Über "Roads not taken" im Deutschen Historischen Museum
23 May 2023Museale Ausstellungen haben traditionell eine kanonisierende und ordnende Funktion. Die Anordnung von Objekten entlang einer übergeordneten Erzählung gleicht der Vorstellung von Geschichte als Aneinanderreihung von Ereignissen, die wie die Perlen einer Kette auf eine Schnur gezogen sind. Wie der britische Soziologe Tony Bennett in The birth of the museum darlegt, ging historisch mit der musealen Darstellung von Geschichte häufig auch die Vermittlung einer Fortschrittsgeschichte einher: Im Rückblick der Ausstellung laufen die Ereignisse auf ein progressiveres Heute zu, das die dargestellte Erzählung vorgibt.
Bereits der Titel der von Dezember 2022 bis November 2024 im Deutschen Historischen Museum gezeigten Sonderausstellung deutet den intendierten Bruch mit dieser Tradition von geradliniger Geschichtserzählung an. Roads not taken steht über der vom Historiker Dan Diner konzipierten Schau, die “anhand von 14 markanten Einschnitten der deutschen Geschichte […] die Wahrscheinlichkeiten von ausgebliebener Geschichte” zeigen möchte. Es geht der Ausstellung also um das Sichtbarmachen jener nicht eingeschlagenen Weggabelungen und der in diesen liegenden situativen Offenheit von Geschichte, die im Rückblick normal unsichtbar bleibt.
Die in der jeweiligen Gegenwart vorhandene Offenheit der Zeitgeschichte wird den Besucher*innen anhand von 14 Stationen der deutschen Geschichte, vom Scheitern der Revolution von 1848/49 bis zur gelungenen Überwindung der SED-Diktatur im Jahr 1989, präsentiert. Dabei verläuft die Erzählrichtung im Großen wie im Kleinen von der Gegenwart in die Vergangenheit. Nicht nur beginnt der Ausstellungsrundgang mit dem Jahr 1989 und endet mit dem Jahr 1848, sondern auch innerhalb der einzelnen Stationen werden vom dargestellten, realgeschichtlichen Ereignis aus die oft prekären und nur im Zusammenspiel hinreichenden Vorbedingungen gezeigt, die es ermöglichten – und die gleichzeitig einen alternativen Verlauf vorstellbar machen.
So sind die im Zentrum stehenden Ereignisse, unter ihnen beispielsweise der Bau der Berliner Mauer oder das ausbleibende, aber historisch mögliche Eingreifen der Reichswehr bei der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, immer durch zwei Ausstellungstafel gerahmt, wobei erstere den realgeschichtlichen Verlauf, letztere das fiktive, jedoch in der historischen Konstellation mögliche, Alternativereignis darstellt. Vermittelt werden der faktisch-historische Ereignisverlauf und der nicht verwirklichte durch Fotografien, Dokumente, Infografiken und eine geringe Zahl von Originalexponaten, die die Nähe von beiden Möglichkeiten veranschaulichen: Zwischen dem Abwurf der ersten US-amerikanischen Atombombe auf Ludwigshafen statt auf Hiroshima steht die gescheiterte Sprengung der Brücke von Remagen, die den alliierten Vormarsch deutlich verlangsamt und die deutsche Kapitulation verzögert hätte. Neben einer elaborierten Infografik, die den Wettlauf des deutschen Uranprojektes mit dem Manhattan-Projekt visualisiert, ist zwischen den beiden Ereignisverläufen ein kleines Stück Mauerwerk der Brücke vitriniert.
Die Nähe von möglichen Geschichtsverläufen wird auch in Ausstellungsgrafik- und architektur übersetzt. Innerhalb der ersten Station zum Jahr 1989 werden historische Fotografien der erfolgreichen und friedlichen Proteste in der DDR solchen der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste auf den Tian’anmen-Platz in der Volksrepublik China gegenübergestellt. Ein großformatiges Lamellenbild zeigt aus der einen Blickrichtung das ikonisch gewordene Bild der rollenden Panzer der chinesischen Volksbefreiungsarmee, auf der anderen die von Menschenmassen erklommene Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor.
Wo diese Darstellungsform aufgeht, wird die Konstellation sichtbar, die die oft nur prekäre Voraussetzung für den eingetretenen Verlauf der Geschichte ist.
Das klar strukturierte Ausstellungskonzept kann auch als Übersetzung eines Bestandteils von Diners Denken in die Form musealer Geschichtsrepräsentation verstanden werden: Der 1988 erschienene und von ihm herausgegebene Band Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz prägt bis heute die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und der Shoa. Was die verschiedenen Beiträge des Bandes eint und was der inzwischen in die Alltagssprache aufgenommene Titelbestandteil “Zivilisationsbruch” auf den Begriff bringt, ist die Erkenntnis, dass sich die nationalsozialistischen Massenverbrechen an den europäischen Juden weder auf Basis von rationalem Verhalten erklären, noch in den Kategorien der klassischen Geschichtsschreibung repräsentieren lassen. Utilitarismus und schematisches Kausalitätsdenken stoßen an ihre Grenzen, versucht man den grundlosen, gegenrationalen und an Erlösungsphantasien gebundenen Massenmord im Rückblick zu verstehen. Fortschrittsdenken und teleologische Geschichtsauffassung, die für die Geschichtsschreibung vor Auschwitz charakteristisch sind, erscheinen vor dem Hintergrund der “an Sinnkategorien gemessen tatsächlich sinnlosen Vernichtung” (Dan Diner) nicht nur hinfällig, sondern erkenntnishemmend.
Die Notwendigkeit von neuen Formen des geschichtlichen Denkens wird in dem Band anhand der Werke verschiedener Protagonist*innen des “Denkens nach Auschwitz” deutlich gemacht. So interpretiert Seyla Benhabib die politische Theorie Hannah Arendts als eine Form des “Geschichte erzählens”, die sich von einer Geschichte der sequentiellen Notwendigkeit verabschiedet und diese stattdessen als offene Anordnung versteht, in der sich zu bestimmten Zeitpunkten unterschiedliche Elemente zu einem Ereignis kristallisieren. Arendt erteilt nach Benhabib einer auf simple Kausalzusammenhänge fixierten Geschichtsschreibung und einem Denken in Analogien eine Absage und macht stattdessen Spontaneität und Offenheit eines jeden geschichtlichen Moments stark.
Geht es dem Band von 1988 und den darin dargelegten Positionen also darum, den rigiden und für die Repräsentation des Präzedenzlosen unzureichenden Kategorien und Modi der traditionellen Geschichtsschreibung neue Formen entgegenzusetzen, die die Beschreibung der Shoa und des Nationalsozialismus erst möglich machen, versteifen sich auch die “Roads not taken” dargestellten Erzählungen – die sich im Gegensatz zu dem erwähnten Sammelband nicht auf NS und Shoa fokussieren – nicht am eigenen Konzept. So bricht die Ausstellung in einer Station mit dem strukturierenden Schema der Klammer aus Real- und Alternativgeschichte: Während bei den 13 übrigen Stationen die abschließende Ausstellungstafel mit einem “Oder:…” den nicht eingetretenen Geschichtsverlauf einleitet und dann anreißt, ist die entsprechende Tafel innerhalb der Darstellung des gescheiterten Attentats vom 20. Juli 1944 mit “Zu spät!” betitelt – die jüdische Bevölkerung Europas wurde zu diesem Zeitpunkt bereits größtenteils ermordet, den Verschwörern ging es nicht um ein Ende des nationalsozialistischen Massenmords, sondern schlicht um Schadensbegrenzung für das deutsche Reich. Eine chronologisch angeordnete Fotostrecke mit Aufnahmen von Deportationen von 1941 bis 1944 und die zugehörigen Bildtexte unterstreichen, wie wenig das in der deutschen Imagination überhöhte und als entlastender Identifikationsmoment fungierende Attentat einen tatsächlichen Unterschied für den Großteil der Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft dargestellt hätte.
Die Darstellungsform linear-chronologisch oder strikt systematisch erzählter Geschichte zu verlassen ist mutig und eine Herausforderung. Von der Vermittlung von alternativen Geschichtsverläufen ist es, wie eine Masse an populärwissenschaftlicher Literatur zeigt, nicht weit zum Fantasieren von oft nur schlecht kaschierten Rache- oder Überlegenheitsphantasien, von situativer Offenheit nicht weit zum Eindruck der reinen Zufälligkeit. “Roads not taken”, und das lässt sich auch durch den Seitenblick auf das übrige Werk des für das Konzept verantwortlichen Dan Diner erklären, gelingt die Vermittlung von Ereignissen als Ergebnis von spezifischen Konstellationen gut. Dies liegt auch an der konsequenten Gestaltung und der passgenauen Kuration. Höchstens den Medieneinsatz könnte man bemängeln: Im letzten Raum liegen in “Gamestationen” Tablets bereit, auf denen ein im Graphic-Novel-Stil gestaltetes Videospiel läuft. Besucher*innen können hier selbst in den Oktober 1989 eintauchen. Angeschlossen am Ende des Rundgangs und unvermittelt zu den übrigen Ausstellungsinhalten wirken die Spielmöglichkeiten wie ein Nachgedanke. Trotzdem verdeutlicht die Schau eindrucksvoll und plastisch, wie sich Geschichte denken lässt und wie offen Zeitgeschichte ist. Sie mahnt in diesem Sinne auch an die immer gegenwärtge Verantwortung fürs Jetzt und Morgen.