'Infoslides' und Antisemitismus: Gedanken zu Dynamiken von Desinformation und Reduktionismus in den Sozialen Medien
14 May 2021Ich folge in den Sozialen Medien vielen Künstler*innen, Autor*innen, Musiker*innen und Fotograf*innen. Sie machen – nicht zuletzt weil der Großteil meiner Freund*innen in den Sozialen Medien nur mäßig aktiv ist – den Großteil der Inhalte aus, welche ich auf Instagram und Facebook konsumiere. In der Folge des zunehmend gewalttätig eskalierenden Konflikts zwischen israelischen Sicherheitskräften und palästinensischen Aufständischen ab Anfang Mai 2021, die ihren Ausgang um die Al-Aksa Moschee und das Viertel Scheich Dscharrah in Jerusalem nahmen, zeigte sich beim Blick in die entsprechenden Apps ein einhelliges Bild: Gerade solche Künstler*innen, die sich selbst als politisch und progressiv erachten, solidarisieren sich auf eine Art und Weise mit der palästinensischen Seite, die in ihrer Vehemenz und Klarheit erstaunt. Dabei erinnert die Form der Solidarität an Kampagnen in den Sozialen Medien aus der Vergangenheit, wie die aufgrund ihres Reduktionsimus und ihrer Einseitigkeit kritisierten Aktion "Dj's for Palestine".
Für diese also nicht ganz so neue Weise eine vermeintlich kritische Haltung auf der eigenen Social Media-Präsenz zu repräsentieren sind verschiedene Form- und Inhaltselemente charakteristisch: In der Instagram-Story einer Illustratorin, der ich eigentlich aufgrund ihrer gut beobachteten, filigran gezeichneten und mit Wasserfarbe kolorierten Stilleben folge, begegneten mir "Infoslides", die die liebevoll gezeichnete Unterhaltung zwischen zwei Frauen wiedergeben, wobei die eine der anderen den Konflikt erklärt. Ob es sich denn nicht nur um einen religiöse motivierten Konflikt handeln würde? Nein, dem ist nicht so, erklärt die andere Frau. Ihre erklärenden Worte verdichten sich auf die für jeden leicht verständliche Zuspitzung "Israelis are the oppressors and palestinians are the oppressed".
Nun ist es allgemein fraglich, ob der manichäische Dichotomismus Unterdrücker vs. Unterdrückte zur Erklärung von Konflikten, die sich vor einem gesellschaftlichen, politischen und historischem Hintergrund entfalten, hinreichende Erklärung sein kann. Es gibt Fälle, in denen er einleuchtet: Wenn Angehörige einer islamistischen Terrororganisation eine Schule in Kabul als Anschlagsziel wählen und für über 50 Todesopfer sorgen, scheint die Verteilung von Schuld und Verantwortung sehr klar zu sein. Wenn die myanmarischen Streitkräfte gegen das Ergebnis einer demokratischen Wahl putschen und bei der Niederschlagung von Protesten eine Vielzahl von Todesopfern und Verletzten in Kauf nehmen, wäre die Einteilung in unterdrückt und unterdrückend ebenfalls eine legitime und zutreffende Beschreibung der Realität. Dass sich in den Sozialen Medien allerdings vermeintliche Erklärungen des gegenwärtigen israelisch-palästinensischen Konfliktes, die auf diese radikale Dichotomisierung zurückgreifen, massenhaft verbreiten, scheint auf psychologischer und kognitiver Ebene erklärungsbedürftig – beschießen doch die militärischen Kräfte der Hamas, welche die Beseitigung Israels und die Errichtung eines antidemokratischen und islamistischen Staates als Gründungsziel hat, seit Tagen zivile Ziele auf israelischem Gebiet mit hunderten von Raketen, verwenden die eigene Zivilbevölkerung als Schutzschild und tragen in keiner Weise dazu bei, die militärische Auseinandersetzung im Interesse der eigenen Bevölkerung zu beenden oder einzuschränken.
Erklären lassen sich die kognitiven und psychologischen Verrenkungen von Nutzer*innen der Sozialen Medien, welche aus einer vermeintlich kritischen und progressiven politischen Haltung heraus solche im Kern antisemitischen Positionen massenhaft verbreiten, primär als Manifestationen von ebendem: latentem Antisemitismus, der sich unter dem Deckmantel angeblicher Anteilnahme Bahn bricht. In der gegenwärtigen Konstellation innerhalb der Sozialen Medien werden jedoch zusätzlich Dynamiken deutlich, welche zum einem dem Aufbau und der Funktion der rahmengebenden Plattformen geschuldet sind und die zum anderen mit den aktuellen Diskursverhältnissen in einem sich selbst als links und progressiv verstehenden Online-Milieu zusammenhängen.
In seinem Aufsatz "Für eine Philosophie der Fotografie" von 1983 weist der tschechisch-brasilanische Medienphilosoph Vilém Flusser unter Bezugnahme auf den libanesischen Bürgerkrieg und die ihn begleitende Berichterstattung auf die suggesitve Macht der Bilder hin: "Wir reagieren auf den fotografisch dokumentierten Libanonkrieg nicht historisch, sondern rituell magisch. [...] Alles in [der Bildoberfläche] ist entweder gut oder böse - die Panzer sind böse, die Kinder gut, Beirut in Flammen die Hölle, weiß gekleidete Ärzte die Engel."1 Flusser weist darauf hin, wie die Bildhaftigkeit der Berichterstattung mit den sie erklärenden Texten zusammenfällt, wie wir "längst aller Erklärungen müde"2 sind und es "vor[ziehen], uns an das Foto zu halten, das uns von der Notwendigkeit des begrifflichen, erklärenden Denkens entlastet und uns die Mühe abnimmt, den Ursachen und Folgen des Libanonkrieges nachzugehen: Wir sehen ja mit eigenen Augen auf dem Bild, wie der Krieg aussieht." Der Mechanismus der Vereindeutigung und Abwehr von Reflexion – des Herstellens von Sachverhalten aus mehrdimensionalen und vielschichtigen Situationen – findet sich im Teilen von "Infoslides" sowohl in deren Einbettung zwischen Bildern des Leids aus dem Krisengebiet wieder, welche in ihrer Gegenbüberstellung von modernem israelischen Kriegsgerät und steinewerfenden palästinensischen Jugendlichen jeglichen kritischen Reflex abtöten, als auch in der bildhaften Sprache des Unterdrückenden und des Unterdrückten, welche eben nicht erklärt, sondern einen Sachverhalt feststellt. Diese prägnante und bildhafte Form der Vereindeutung, welche vermeintlich informiert, aber den Konsument*innen in Wahrheit weder Raum für Reflexion noch die Wahl einer einzunehmenden Haltung lässt und sich inhaltlich ideal in die Formvorgaben der entsprechenden Plattformen einfügt, verbindet sich fast synergetisch mit einer in Spielarten des gegenwärtigen Antirassismus verbreiteten Haltung, die die eigene Positionierung über Inhalte und Analyse stellt.
Begriffe wie "ethnic cleansing", "military occupation", "apartheid", "colonialism", "intersectional solidarity" und "institutionalized violence" tauchen vielfach in den kursierenden "Infoslides" auf, oft gesondert hervorgehoben. Sie erfüllen dabei nicht etwa den Zweck die Situation zu erklären – was sie in anbetracht des minimalen Kontextes, der um sie herum mitgeliefert wird, auch kaum könnten. Sie verdeutlichen stattdessen, ähnlich wie die suggestiv eingesetzten Fotografien und Videoaufnahmen, symbolisch welche Seite die richtige und welche die falsche ist, kurz: welche Haltung die Konsument*innen einzunehmen haben. Dem Motto "silence is violence", welches im Rahmen der weltweiten Proteste aufgrund der Ermordung George Floyds durch einen Polizisten im Mai 2020 Verwendung fand, folgend, ist die logische und moralische Konsequenz aus der Eindeutigkeit, die sich den Konsument*innen in der Form solcher "Infoslides" darstellt, das Teilen ebendieser im eigenen Profil. Diese Dynamik beschleunigt die Ausbreitung der – in diesem Fall antisemitischen – Inhalte, weil sie seitens der Konsument*innen, wie Flusser beschreibt, vom reflexiven Denken entlastet, die "richtige" Haltung mitliefert und teilweise in Form von scheinbaren Informationen eine Legitimation für den eigenen latenten Antisemitismus, der nun nicht nur geäußert werden darf, sondern aus moralischen Gründen muss, an die Hand gibt. Gleichzeitig profitieren die Plattformen, die die kurze, zu Reduktionismus verleitende und schnell konsumierbare Form vorgeben, von Interaktion und Verweildauer profitieren und kaum Ressourcen für Moderation bereitstellen, von den konflikthaften und affektsteigernden Inhalten.
Das Eingedenken der medientheoretischen Dimension in das Verständnis der Verbreitung von antisemitischen Inhalten und Desinformation kann helfen, die massenhafte Verbreitung von antisemitischen Inhalten und Desinformation in den Sozialen Medien zu verstehen. Der sich in den Sozialen Medien ausbreitende Hass und die informativ daherkommenden Fehlinformationen sind allerdings kein theoretisches Problem – sie manifestieren sich aktuell in ganz realen Angriffen auf jüdische Einrichtungen und Personen. Ihnen auf allen Ebenen entgegenzutreten und reduktionistischer Vereindeutung reflexives Denken entgegenzusetzen, muss das Gebot der Stunde sein.